Sonntag 21. Dezember 2014, 01:18
Hallo zusammen,
danke für alle Zeilen, jede freut mich, jede macht Mut! Hey Patrick, ja, mit dem heutigen Tag sind 146 Tage geschafft. Das letzte versoffene Wochenende liegt also 21 Wochen zurück, aber die Erinnerung ist noch frisch.
Kritische Situationen, die mich der Flasche nähergebracht hätten, gab es in letzter Zeit nicht. Der alte Reflex verblasst. Eine feine frische Schicht legt sich über die alte Trinkgewohnheit, es ist, als ob junges, hellgrünes Gras mit glitzernden Tautropfen über einen Haufen wächst, aber dieser Haufen ist eben nur ein Haufen und kein Vulkan, ein Haufen aus Kompost und schlechtem Gewissen und Scheiße. Alles Sachen von mehr oder weniger absehbarer Halbwertszeit.
Direkt nach Weihnachten zieht meine erwachsene Tochter aus unserem Wohnzimmer aus, wenn auch widerstrebend, weil sie sich hier um nichts kümmern muss, sie zieht in eine eigene kleine Mietwohnung, die ich glücklich für sie finden konnte, und ich sage: endlich. Auch wenn das unväterlich klingt. Es führt zu weit, das jetzt zu erklären, kurz gesagt halte ich sie mit 23 für alt genug, ihren eigenen Weg zu finden. Einfach wird das nicht, und die Bande zum Vater bleibt, und der Vater wird weiter bangen, den Kopf schütteln, genervt sein, gut zureden, fassungslos sein und helfen, der Vater, dessen Trinkerkarriere durch sein erstes, nunmehr 23-jähriges Kind mit forciert wurde, woran zuallerletzt das Kind Schuld trägt.
Schuld ist ein großes Wort. Ich denke an Schuld und Angst, wenn ich an meine eigene Kindheit denke, obwohl sie doch behütet war, an Schuld und Angst und Angst vor der Schuld. Woher kommt das? Welche Fehler gab es, welche Fehler wiederhole ich?
Am Donnerstag war das letzte Gruppentreffen im alten Jahr. Unsere Therapeutin kippte eine große Kiste voller Krimskrams aus und legte einen Wollfaden quer durch unseren Stuhlkreis, und jeder sollte zwei Gegenstände aus dem Krimskrams auswählen und einen der beiden Gegenstände auf die eine und den anderen auf die andere Seite des Fadens legen. Die eine Seite stand für "Was mir dieses Jahr gut gelungen ist, was ich geschafft habe", die andere Seite für "Was noch vor mir liegt, was ich noch lösen will". Also, ich habe eine Steinschnecke auf die Habenseite und eine Karte aus einem Yoga-Kartenset mit dem Begriff "Heilung" auf die Soll-Seite gelegt. Die Schnecke steht für die Langsamkeit und Festigkeit, die ich mehr für mich entdecken konnte in diesem Jahr, auch für ein großes Stück Gleichmut. Die Karte mit dem Begriff "Heilung" steht für die Überwindung des Trinkens, die noch nicht geglückt ist. Das heißt, seit 146 Tagen anscheinend schon, aber das ist ein fragiles Zahlengebilde, noch lange nicht ausgestattet mit der gleichmütigen Bestimmtheit, mit der eine Schnecke in ihrer Spur bleibt.
Meine Gruppenkollegen haben auf die Sollseite gelegt: eine Spieluhr der eine, er will mehr Musik, also mehr Abwechslung in seinem Leben. Einen Würfel ein anderer, weil Entscheidungen bevorstehen und er der Bestimmer der Seite sein will, die der Würfel zeigen wird, aber noch nicht weiß, ob ihm das gelingen wird. Ein dritter Gruppenkollege wählte ein Spielzeugschaukelpferd, weil er sich noch als ungewiss schaukelnd empfindet, was seine berufliche Zukunft angeht.
Auf dem Weg sind wir alle. Auf dem Weg, das war, das ist mein Leben in diesem zu Ende gehenden Jahr mehr als in allen zuvor. Ein Jahr des Wandels war, ein Jahr der vorsichtigen Erwartung wird sein, und beides gehört zusammen.
Ich wünsche euch allen schöne Weihnachtstage. Lasst euch nicht in Versuchung bringen. Euer Leben ist wertvoller als jede Versuchung.
Herzlich grüßt
Dieter, mit 146