Ich warne euch. Es wurde ein sehr langer Beitrag. Dabei fing er mal ganz klein an mit einer nicht wirklich zitier-werten, kuriosen Studie:
9 (in Worten: neun) Langzeit-Heavy-Drinker mit täglichem Rauschkonsum wurden auf Baclofen gesetzt.
Über Nebenwirkungen sagt die 2012 publizierte präklinische Studie nichts aus.
Es handelte sich um 9 Paviane (die mit dem Hintern)
Die Alternative zum Alkohol für die Tiere: die durch NASA-Weltraumflüge promotete Limonade TANG, die ebenso wie Alkohol zuvor als Belohnung etabliert worden war.
Ich bin Laie, aber es kommt vor, dass ich mich durch sowas durchknabbere und mich frage, welchen Stellenwert neun Paviane für Baclofen haben. Aus lauter Neugier und ohne grossartig nützlichen Outcome. Unnützes Wissen? Oft schon

Auf TANG könnte man verzichten, der kurze Ausflug zu den Pavian-Arten war aber nett und das Thema
Tierversuche mit Ratten hat mich eine weitere interessante Viertelstunde gekostet.
Ich fürchte, so war ich schon immer: Mein Hirn ist sowas von neugierig und liebt Beschäftigung - und das Internet wird noch mein Untergang sein. Ich benutze ein 10jähriges Handy mit winzigem Display ohne Internet-Zugang und ringe seit Monaten mit der Entscheidung, mir ein richtiges Smartphone zuzulegen. Ich weiss, was mir blüht, wenn: Ich werde das Teil bei
jeder Gelegenheit zücken, wo ich etwas (noch) nicht weiss oder mich gerade nicht erinnern kann. Womöglich heimlich auf der Toilette googeln zwischen Vorspeise und Hauptgang...
Fehlende Impulskontrolle in unangenehm erlebten Anspannungszuständen aufgrund offener Fragen...
Wenn dieses Verhalten auch Stirnrunzeln auslösen kann, weil es mich oft für Stunden am Bildschirm kleben lässt - es befriedigt etwas in mir. Ich stelle jedoch fest, dass sich die Themen und Richtungen verändert haben. Bis vor ein paar Monaten war ich unterwegs auf der Schiene "Woher-kommt-es? Was mache ich falsch?". Psychologie hauptsächlich: die Suche nach meinen Defiziten und Schwächen und die Arbeit daran. Was ist anders an mir, was ist abweichend? Was muss ich tun?
Im letzten halben Jahr hat sich das unmerklich verschoben. Es tat sich eine alternative Schiene auf, und sie begann mit einer Schrecksekunde: Was habe ich aus mir gemacht, indem ich Annahmen zur Psychopathologie "des" Alkoholikers auf mich anwendete? Und was will, ja muss ich sofort und unbedingt daran ändern? Es ist ein Prozess, der länger schon in mir schlummerte und seinen Anfang in einem älteren Aufsatz mit dem provokanten Titel
Wie chronifiziere ich Suchtkranke am besten? nahm; eine systemische Betrachtung der Zwickmühlen, denen ein Suchtkranker ausgesetzt ist, die Krux mit dem Amboss Abstinenz. Widerstand gegenüber Zuschreibungen, berechtigterweise, wie ich heute finde.
Ich weiss, dass ich zu Beginn der Baclofen-Behandlung an einem anderen Ort stand als jemand, der sich erstmals mit der Problematik befassen muss. Ich kannte die Abstinenz bereits und wusste, sie bringt mich nicht um, sie ist auszuhalten und hat tatsächlich viele Vorteile. Vieles, was Baclofen ermöglicht, war ansatzweise bereits ohne möglich - bis zum nächsten starken Craving und Rückfall. Trotzdem drehte ich auch nach 10 Jahren Auseinandersetzung mit der Alkoholabstinenz noch immer an Ort (kennt ihr den Witz vom Betrunkenen, der seinen Schlüssel unter der Strassenlampe sucht, weil dort das Licht besser ist?). Ich suchte Ursachen für meine Sucht bis zurück in meine Urgrosseltern-Generation und landete nach allen Ausflügen und Therapien wieder bei meinem psychischen Anderssein. 100 mögliche Erklärungen, um mich zu entlasten, z.T. an mich herangetragen: Es gab gute Gründe für all das Leid, ich bin nicht schlecht, ich konnte nicht anders. Und immer suchte ich damit auch DEN Ansatzhebel zu finden, um es besser zu machen, entblösste bereitwillig jede Schwäche (bis hin zum Rundumschlag-Outing) und leuchtete jeden Winkel aus, um mich zu befreien und es "richtig" zu machen, mein Mensch-Sein.
Das alles ist, ohne dass ich es bemerkt habe, in den Hintergrund getreten, wie ich kürzlich erstaunt feststellte: ich befasse mich kaum noch mit meinen "Abweichungen", sondern integriere mein normales Wesen. Ich halte mich weder mehr für krank, noch für psychisch auffällig, nicht einmal mehr für "anders": Ich befinde mich absolut innerhalb der Bandbreite von normal. Ich nehme die Gemeinsamkeiten wahr, die ich mit Menschen ohne Alkoholprobleme habe, nicht mehr die Unterschiede. Das macht einen Riesenunterschied. Ich muss mich nicht anders verhalten als ein Nicht-Süchtiger: ich entscheide unbeschwert über Trinken ja oder nein. Einzig gegenüber meinem ängstlichen Umfeld gibt es immer noch eine Art Versteckspiel: Die wissen noch gar nicht, was ich weiss: Es ist vorbei.
Klingt das nicht gefährlich vermessen? Grossmäulig? Kommt Skepsis auf?
Zum Ja oder Nein: Es fand ein weiterer nicht-klinischer Tests mit Bier statt. Voran ging eine gewisse Lust auf den Durstlöscher und das prickelnd-bittere Geschmackerlebnis an einem heissen Nachmittag (Motiv), ein einfacher, spontaner Bierbüchsenkauf (Mittel) und freie Bahn dank Abwesenheit besorgter Mitmenschen (Gelegenheit). Es schmeckte auch dieses Mal nicht und wurde nach einem halben Glas weggeschüttet. Der sofort leicht wattierte Kopf ist mir sowas von unangenehm, dass ich mich (nicht ganz ernsthaft) frage, ob Baclofen bei mir eine aversive Wirkung hat. Ich bevorzuge mein Schweizer Analogon zum
NASA-TANG und spülte kräftig nach, um den Geschmack loszuwerden. Wie oft mein Hirn noch benötigt, um die Realität dieser Abneigung über die Sensation von "Bier=Genuss" zu schreiben, wird sich zeigen. Das Gewohnheitstier geht immer noch davon aus, dass es schmecken wird - aber es ist ja lernfähig, wir werden ihm das schon noch beibringen. Hie und da ein Schluck von Tischnachbar's Glas reicht. Einen Verlust wüsste ich nicht zu beklagen - im Gegenteil, was bin ich froh, dass mir Limo besser schmeckt!
Eine der klassischen Fragen der systemischen Therapie ist die "Wunderfrage": Wenn über Nacht ein Wunder geschieht und das Problem im Schlaf verschwindet, woran merken Sie das am nächsten Tag?
Das Wunder ist geschehen, das Problem verschwunden. Soviel ist klar. Die Antwort nun rückblickend zu geben, gar nicht so einfach. Ich tüftle noch. "Was
ganz genau ist anders?" als Arbeitstitel. Ich spüre, die Lisa-Antwort ist noch nicht ganz reif: sie darf sich noch etwas entwickeln. Vielleicht aber auch: Sie lautet jeden Tag anders. Wenn wer Lust hat, mitzutüfteln: Nur zu!
lg
Lisa