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"Evidenz statt Eminenz"

Sonntag 18. Dezember 2011, 14:07

Grundsätzlich stimme ich diesem hehren Wappenspruch auf der Fahne des Arznei-Telegramms zu. Auf der website des Arznei-Telegramms findet man ein Glossar, hieraus entnommen:
Allgemeine Erläuterungen: Evidenz
Während im deutschen Sprachraum der Begriff Evidenz "Augenfälliges", "auf der Hand Liegendes" beschreibt, wird die Bezeichnung "evidenzbasierte Medizin" aus dem Englischen abgeleitet (evidence based medicine). Hier ist mit Evidenz Nachweis oder Beweis gemeint und bezieht sich in erster Linie auf Belege, die aus klinischen Studien abgeleitet werden können.
Im Glossar findet sich der Begriff „off label“ nicht. Klar, passt nicht zum Selbstverständnis der Gralshüter und selbsternannten Kreuzritter der evidenzbasierten Medizin, auf ihrem Kreuzzug wider die Pharmaindustrie und der sie verdeckt unterstützenden Eminenzen. Aufgedeckte Interessenskonflikte, meist verschwiegen obwohl naheliegend, sicher ein Verdienst des A-T.

Was aber ist mit dem Begriff „Compassionate Use“ der im Glossar ebenfalls nicht vorkommt?
(Übersetzung: Anwendung aus Mitgefühl) versteht man den Einsatz (noch) nicht zugelassener Arzneimittel an Patienten in besonders schweren Krankheitsfällen, die mit zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können. In der deutschen Sprache wird das unmittelbare Äquivalent „individueller Heilversuch“ genannt. In der Literatur werden häufig Begriffe oder Umschreibungen wie Freigabe aus Barmherzigkeit oder barmherziger Gebrauch beziehungsweise Anwendung eines nicht zugelassenen Arzneimittels an Patienten oder auch vorzeitig geduldete Anwendung eines noch nicht zugelassenen Arzneimittels aus humanitären Erwägungen verwendet.

Dürfen Apotheker und Mediziner mit ethischer Gesinnung verschweigen, wie hilfreich die praktizierte „off label-Anwendungen“ in der Vergangenheit waren, das Beispiel HIV steht stellvertretend für viele andere. In den Jahren nach 1988 führte die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) beschleu­nig­te Zulassungsverfahren (Fast Track, Accelera­ted Approval und Priority Review) ein und eröff­ne­te die Möglichkeit, experimentelle Wirkstoffe anzuwenden (Parallel Track). 1996 stellten Forscher erstmals die positiven Ergebnisse der Kombinationstherapie vor. Die gleichzeitige Anwendung von mindestens drei antiretroviralen Medikamenten aus verschiedenen Wirkstoffklassen erreichte eine bis dahin fast undenkbare Wirksamkeit. Nach Jahren der Frustration keimte Hoffnung. Patienten, die den sicheren Tod vor Augen hatten, bekamen eine neue Lebensperspektive. Ähnliche Verfahren wurden in der EU erst ab 2006 etabliert.

Allein die Rote Liste (2009) weist 52 Medikamente aus der neurologischen Praxis für den off-label-use aus. In der Onkologie und Kinderheilkunde ein ähnliches Bild. Die Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels zur Behandlung einer Erkrankung, für die es nicht vorgesehen ist, liegt darin, dass sich medizinische Erkenntnisse über Krankheiten und deren medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten in hoher Geschwindigkeit entwickeln. In solchen Fällen kann die Anwendung eines bestimmten Arzneimittels außerhalb des eigentlichen Zulassungsbereiches vor einer Überprüfung durch die zuständige Zulassungsbehörde medizinisch sinnvoll sein.

So sinnvoll die Forderung nach einer evidenzbasierten Medizin auch sein mag, so sinnentleert ist das sture Festhalten an einem Prinzip (Evidenz statt Eminenz) das letztendlich lebensrettende Maßnahmen verhindert. Der ursprüngliche Ansatz schädliche Wirkungen von Medikamenten (Contergan) verhindern zu wollen, darf nicht dazu führen, dass langjährig (40 Jahre) erprobte und nachweislich nichttoxische Medikamente (Baclofen) von evidenzgetriebenen Eminenzen als ungeeignet für den „off label Gebrauch“ bezeichnet werden können.

Die Eminenzen des A-T wissen sehr genau dass eine klinische Studie nach ihren Maßgaben für Baclofen illusorisch ist. Es dennoch einzufordern wie in dem Antwortbrief von praxx dokumentiert, zeugt von einer inhumanen Gesinnung und wiederspricht dem gesunden Menschenverstand. Und außerdem wiederspricht es diesem Grundsatz:
Seit Anbeginn wichtigstes Anliegen des arznei-telegramm ist die Bewertung von Nutzen, Schaden und Kosten von Arzneimitteln und Therapieverfahren. (Quelle: arznei-telegramm.de


LG Federico

Re: "Evidenz statt Eminenz"

Sonntag 18. Dezember 2011, 15:03

Ich habe dem netten Kollegen aus der AT-Redaktion folgendes erwidert:

Sehr geehrter Herr Kollege XXX,

die von Ihnen zitierte Studie von Garbutt & al. hat leider einen ganz entscheidenden Mangel: Sie wurde mit völlig insuffizienter Dosis durchgeführt!

Wird die Baclofendosis schrittweise bis zur subjektiv ausreichenden Cravingunterdrückung erhöht, sehen die Ergebnisse wieder anders aus. Schon eine Dosiserhöhung auf 60mg p.d. zeigte gegenüber der 30-mg-Dosierung deutlich bessere Ergebnisse (Addolorato), von Jaury und Beaurepaire wurden Dosierungen von durchschnittlich 130mg beschrieben, ich sehe Baclofendosierungen bis 150mg p.d., die gut vertragen werden, auch wenn meist eine Dosis von 75-100 mg als ausreichend beschrieben wird.

Derzeit ist aufgrund der Ergebnisse der von mir erwähnten Beobachtungsstudie an der Université Paris Déscartes eine große, randomisierte Doppelblindstudie geplant, deren Ergebnisse dann abzuwarten wären.

Jedenfalls erscheint die relativ preiswerte (Tagestherapiekosten 1,00 € bei 100mg) Baclofenbehandlung sicher und der teuren Behandlung mit Naltrexon (4.50 €/d) oder Acamprostat (3.10 €/d) deutlich überlegen.

Bin mal gespannt, ob es darauf eine Antwort gibt.

LG

Praxx

Re: "Evidenz statt Eminenz"

Sonntag 18. Dezember 2011, 18:04

Sie wurde mit völlig insuffizienter Dosis durchgeführt!
@praxx,

da musste ich leicht schmunzeln und habe mir den Verlauf der Studie (2005-2007) nochmal angesehen. Zur insuffizienten Dosis kommen nach meinem Verständnis noch die insuffizienten Probanden.
Die Heavy Drinking Kriterien sind ja bekannt. ablach

LG Federico
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