Es ist mir nach wie vor ein Rätsel warum die Franzosen mit dem Problemfeld Alkohol derart offen umgehen können. Dieser Artikel aus „Le Figaro“ wäre bei uns vollkommen undenkbar. Die Diskussion wird in unseren Landen der Öffentlichkeit nach wie vor vorenthalten. Kein Wunder also, wenn das Klima der Angst vor Entdeckung den niederschwelligen Zugang zu Suchthilfeeinrichtungen erschwert.
Alkohol: Abschied von der Abstinenz?
Die Welt des Alkoholismus steht vor großen Veränderungen. Das Geschäft mit dieser Krankheit könnte in Frage gestellt werden. In der Behandlung der Alkoholabhängigkeit ist einiges in Bewegung gekommen: ausgelöst durch die Behandlungserfolge mit Baclofen müssen alte Konzepte auf den Prüfstand der Suchtmedizin. Ein wichtiger Aspekt der Behandlung ist der dauerhafte Abstinenzanspruch nach der Entwöhnung, der in immer mehr Frage gestellt wird. Die Französische Society of Alcoholism wird während seiner Tagung im März 2012 in diese Debatte einsteigen.
Es wird sicher noch Jahre dauern bis Gewissheit aus derzeitigen Hypothesen wird. Die diversen Untergruppen der Patienten mit Alkoholabhängigkeit sind vielschichtig und müssen mehr als bisher berücksichtigt werden. Eine erste randomisierte Studie, landesweit durchgeführt 2012/2013, wird erste Erkenntnisse auf einer breiten Datenbasis liefern.
Das Ausmaß des chronifizierten Alkoholismus in Frankreich ist besorgniserregend. 30.000 Todesfälle pro Jahr, zwischen 4 und 5 Millionen Menschen trinken problematisch und ca. 1,5 Millionen Menschen sind von Alkohol abhängig. Die Freiheit sich für Abstinenz zu entscheiden ist diesen Menschen verloren gegangen, sagt Prof. François Straw, ein Suchtspezialist aus Nancy (CHU). Alkoholabhängigkeit ist das Ergebnis fortgesetzten Missbrauchs von Alkohol. In ihrer schwersten Form, der physischen und psychischen Abhängigkeit dreht sich praktisch das komplette Leben ausschließlich um den Kauf und Konsum von Alkohol. Hinzu kommen sehr oft soziale, berufliche und persönliche Schwierigkeiten, begleitet von psychischen und medizinischen Komplikationen. Angst, Sozialphobien, Nikotin, Medikamente und Drogen sind häufig mit chronischem Alkoholismus assoziiert und erzeugt Depressionen.
Wie will man diesen Kampf gewinnen, wenn die Forderung nach lebenslanger Abstinenz den Beginn einer Behandlung, eines langen Prozesses immer an den Anfang stellt. Unser Ansatz stellt den Patienten in den Mittelpunkt. Er allein entscheidet wann, was, wie er will. Der tiefere Sinn ist seine Entscheidungsfreiheit wieder herzustellen, die Fähigkeit sein Leben selbstbestimmt zu führen, sagt Dr. Philippe Batel, Suchtspezialist des Beaujon Hospital, Clichy. Die Motivationsphase ist langwierig, regelmäßige Konsultationen der psychischen, physischen, persönlichen, beruflichen und juristischen Aspekte sind wichtiger Teil der Behandlung. An irgendeinem Punkt führt diese Arbeit zu einer Tür die der Patient selbst öffnet und sich dann selbstbestimmt für Abstinenz oder Reduzierung des Alkoholkonsums entscheidet.
In den überwiegenden Fällen findet diese Behandlung ambulant statt, ein Klinikaufenthalt ist nur in schweren Fällen notwendig.
Rückfall
Rückfälle sind Teil der Erkrankung und häufig sind sie Teil des Verlaufs betont Prof. Straw. Prof. Michel Lejoyeux (CHU Bichat) kommt zum gleichen Ergebnis. „Es gibt keine Zwangsläufigkeit des Rückfalls aber er ist bei dieser Krankheit oft nicht zu vermeiden.“ Viele Patienten gehen dem Pflege-System auf diese Weise verloren. Die Aussicht auf ein Leben in dauerhafter Abstinenz kann die Patienten erschrecken, nur wenige von ihnen sind in der Lage ein Leben ohne Alkohol zu akzeptieren.
Die Forderung nach Abstinenz zu Beginn einer Behandlung ist ein schwerer stategischer Fehler, das Gesundheitssystem schließt damit 80% der Patienten von vornherein aus, sagt Dr. Batel. Bieten wir ihnen doch eine Alternative, öffnen wir die Tür zur Reduktion auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist, ist er besser als gar keiner. Erst wenn Abstinenz nicht mehr relevant ist, ist es effizienter Veränderungen zu erreichen, eine Veränderung im Konsumverhalten ist allemal besser als keine Veränderung.
„Wir wissen heute dass einige Patienten einen unbedenklichen Konsum erreichen können, 20% konsumieren fortgesetzt in unbedenklichen Mengen. Was wir noch nicht wissen, ist warum es einige können und andere nicht“, sagt Dr. Batel. Diese Ansicht teilt auch Professor Pierre-Michel Llorca (Clermont-Ferrand). „Wahrscheinlich werden einige Patienten langfristig abstinent leben müssen, andere finden einen Weg aus der Abhängigkeit und können das Rad zurückdrehen.“
Die veränderte Behandlung wird in den hausärztlichen Praxen entscheidend vorangehen, die ersten Hinweise auf bestehende Alkoholprobleme gibt der Hausarzt. „Derzeit besprechen nur 30% das Problem mit ihren Patienten, sagt Prof. Philip Jaury (Universität Paris-Descartes). Die Mehrzahl fühlt sich unsicher und ist schlecht auf diese Aufgabe vorbereitet. „Es ist eine Tatsache, dass das Problemfeld Alkoholismus lediglich in ein paar Stunden ihrer Ausbildung zum Mediziner abgehandelt wird.“
_________________ „Es gibt keine Alternative zum Optimismus, Pessimismus ist Lebensfeigheit.“ Richard David Precht
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