@Warzo:
durch das systemische Denken, das sich immer weiter verbreitet, wird deine unten genannte historische Dimension noch verstärkt in Lebensgeschichten, in Therapien z.B. auftauchen. Ich habe selbst in zahlreichen Familienaufstellungen oft sehr eindrucksvoll gesehen, wie sich (auch länger zurückliegende) Schicksalsschläge von aussen oder auch andere, z.B. Freitode, über mehrere Generationen hin auf ein Familiensystem auswirken, ihre Dynamik entfalten.
Danke für diesen deinen Einblick !
Gerade, war Du über Familie schreibst, kenne ich ja nicht nur von der Kurdin, sondern auch aus meiner eigenen Familie und dem Dorf, in dem wir wohnten, da wohnten viele Angehörige, ich kannte alle 4 Ur-Omas persönlich. Für mich war es eine Art Heile Welt, nicht, weil alle das spielten, sondern, weil viele Menschen da waren, die alle in eine gemeinsame Richtung schauten und selbstverständlich zusammen gehörten. Und weil für mich immer jemand da war, der oder die mir wohl gesonnen war - die Güte der Omas, des Opas. Es war eine glückliche Kindheit. Vertrauen ins Leben war etwas, was ich stark empfand. Edith: Geborgenheit.
Bis ich 10 war, da rissen meine Eltern es auseinander, sie bauten ein Haus woanders. Und dort, in dieser fragil gewordenen Dreierwelt (klar, das Spiel der Kräfte war plötzlich frei, es war für mich das Chaos) verlor ich den Boden unter den Füßen.
Meine neue Heimat war die Drogenszene. Dort war es noch am "Familien-ähnlichsten".
Es ist wohl die Selbstverständlichkeit der Zusammengehörigkeit, die eine Familie ausmacht - im idealen Fall. Wobei ich jetzt gerade feststelle, dass ich den Alkoholikerforen, in denen ich mal mitlas, oft Familien als eher negativ dargestellt werden, als Horte, die die eigene Kreativität usw. blockierten, eine eher repressive Familienvorstellung und -erleben.
Das ist ja auch das Geheimnis der Selbsthilfegruppen, dazu wurden sie ursprünglich (in den 80ern glaube ich) von der damals aufkommenden professionellen Sozialarbeit ins Leben gerufen - was sie ausmacht ist (neben der Informationsbeschaffung) die Selbstverständlichkeit des "dabei seins" in einer Gruppe. Nicht mehr über Familie, sondern über ein gemeinsames Thema. In jedem Fall der (oft geglückte) Versuch der Rekonstruktion sozialer Strukturen.
Zitat:
Kollektive Erinnerung packt auch mich, lässt mich nicht los bis zum heutigen Tag. Ich fühle mich nicht wirklich verwurzelt, bin heimatlos. Abgesehen von meiner Zeit in England kannte ich nie ein Heimatgefühl. Ich irre durch Deutschland und die Welt und finde kaum Sinn, zumindest nicht hier. Es gibt ein existentielles Vakuum, hervorgerufen durch kollektives (historisches) Gedächtnis an die neuere deutsche Geschichte und deren mannigfaltige Folgen. In meiner ursprünglich gesunden Familie wäre ich unter "versoffenes Subjekt" gelaufen - oder so weit wäre es gar nicht gekommen. Nicht alles lässt sich psychologisieren oder auf sozioökonomische Gemeinplätze (Existentielle Leere westlicher Industriestaaten) reduzieren.
"Heimat" ist ein Begriff, der lange Zeit mein Lebensthema war. Heimatlos fühlte ich mich auch die meiste Zeit meines Lebens. Seit ein paar Jahren habe ich sowas wie Heimat wieder. Lange Zeit war "Heimat" für mich mein Beruf und der Sport. Der letzte Satz im vorherigen Zitat - ja - wie will eigentlich ein Therapeut alle Punkte berücksichtigen?
Ich möchte keine "Vergangenheitsromantik" betreiben. Wir haben das Jetzt und was machen wir daraus - das ist ja auch das Thema für die vielen, die nie eine Familie hatten oder andere "harte" Starts ins Leben..
Die Zukunft wird indes wohl spannend - möglicherweise müssen in Zukunft die Leute wieder näher zusammen rücken.
Ich hab das mal in Gedanken durchgesponnen, als ich las, dass so viele Stromtrassen fehlen und es sein könnte, dass es auch mal Stromausfälle geben kann.
Oder andere Dinge passieren, einiges sich grundlegend ändert, die Zeiten sind ja etwas unruhig. Ein wirklich interessantes Gedankenexperiment.
LG Diana
Liebe Milli,
Zitat:
Zum Beispiel die Analphabetin aus den Abruzzen, die den ganzen Tag in ihrer Wohnung ( in der Schweiz ) sass und auf die Rückkehr ihrer Familie am Nachmittag und Abend wartete, die Kinder aus der Schule ( die sprachen italienisch, "abruzzisch" und deutsch
und den Ehemann, der als Lagerist gebrochen deutsch sprach, genügend, um sich gut mit Kollegen unterhalten zu können.
Diese Frau hatte keine Möglichkeit, zu kommunizieren, oder zu lesen.
Hätte sie ein wenig Bildung gehabt, hätte sie doch ein paar Möglichkeiten mehr gehabt.
Was sie machte, war ein bisschen italienisches TV zu schauen.
ich habe extra deine mail unter Warzos gestellt, da das Thema passt.
Aber - war das dann denn nicht auch eine "auseinander gerissene" Familie? Ihr fehlten die anderen Frauen, die, die da wohnen, wo sie herausgegangen ist. Das kenne ich natürlich auch, z.B. die Türkinnen, die den ganzen Tag in ihrer Wohnung sitzen, alleine oder mit Kind. Aber da ja langsam ganze Stadtteile entstehen, in denen ihre Heimatkultur lebendig ist, nivelliert sich auch dieses Problem, kommt eben nur drauf an, von welcher Seite man es betrachtet.
LG Diana