Dienstag 17. Oktober 2017, 13:22
Liebes Forum!
Ich stelle mal einen Artikel, den ich vor längerer Zeit für die TrokkenPresse geschrieben hatte, für Euch rein.
Bin übrigens gerade beim Schreiben des 5. Teiles meiner Geschichte "Mein Weg m. Baclofen".
Viel Spaß beim Lesen!
Die gestohlene Zeit In meiner Kindheit hatte ich oft das Gefühl, dass die Zeit unendlich langsam vergeht. Noch gut kann ich mich daran erinnern, wie lang mir damals immer die Sommerferien vorkamen und wie endlos lang war doch erst die Zeit bis zum Heiligen Abend. War es dann endlich soweit verging die Zeit wiederum super schnell. Heute habe ich das Empfinden, dass, je älter man wird, die Zeit nur so dahin rast. Auch meine liebste Jahreszeit der Frühling, wechselte wiedermal viel zu schnell in den Sommer ...
Wissenschaftler vertreten die These, dass die Zeit als Erwachsener deshalb schneller vergeht, da das Leben erwachsener Menschen mehr mit Routine ausgefüllt ist. Der Mensch hat meist dieselben Freunde, denselben Job, dieselben Tagesabläufe usw.. In der Kindheit hingegen erlebt man noch so viel Neues, dass die Zeit uns länger erscheint. Ein Kind erlebt viele „erste Male“ und jeder Tag ist spannend und noch voller Abenteuer.
Die Zeit ist immer gegenwärtig und taktet unser gesamtes Leben. Von Albert Einstein wissen wir, dass die Zeit relativ ist, relativ zu Geschwindigkeit und Materie. Deshalb kann sie unterschiedlich langsam oder schnell vergehen. Zudem hat jeder Mensch sein persönliches Zeitempfinden. Es setzt sich individuell aus der Bewertung der Eindrücke zusammen, die gerade passieren. Empfindet man eine Situation positiv, vergeht die Zeit sehr schnell. So geht es mir stets, wenn ich meine Lieblingsgruppe besuche. Am liebsten würde ich die Zeit festhalten, denn die andertalb Stunden vergehen für mich immer wie im Fluge. Das heißt jedoch nicht, dass jeder so empfinden muss. Jemand der nur unter Auflage (Gerichtsbeschluss o.ä..), also gezwungenermaßen in der Gruppe sitzt, dem können die andertalb Stunden endlos lang vorkommen.
Wissenschaftlich erwiesen ist auch, je mehr Neues und Emotionales man erlebt, desto mehr prägt es sich im Gedächtnis ein und desto länger wirkt ein Zeitraum im Nachhinein. Rückblickend wird das Zeitempfinden interessanterweise genau in das Gegenteil gekehrt: Intensive Erlebnisse, die im Moment zu rasen scheinen – wie zum Beispiel ein schöner Urlaub – erscheinen im Nachhinein wie ausgedehnt. Die Zeit ist dort viel intensiver genutzt worden. Diese Fülle an Erlebnissen und Emotionen dehnen wir im Nachhinein aus, weil wir liebend gern noch länger geblieben wären.
Dieses Phänomen konnte ich vor ein paar Jahren, als ich zur Alkoholentgiftung in Havelhöhe war, selbst erleben.Im Gegensatz zu anderen Kliniken, wo man mitunter nur die Zeit absitzt, war dort an Langeweile nicht zu denken. Die Tage dort waren gut strukturiert und ausgefüllt mit den unterschiedlichsten Therapien und Vorträgen, sodass jeder Tag wie im Fluge verging. Doch das Paradoxe war, dass mir diese 12 Tage in Havelhöhe im Nachhinein viel länger vorkamen! Ich hatte das Gefühl, als wäre ich Monate von zu Hause weg gewesen.
Die Zeit vergessen und ganz in einer Sache aufgehen, dies erlebe ich besonders bei meinen Hobbys dem Malen, Lesen oder Schreiben. Auch ein Kinobesuch oder ein Treffen mit Freunden läßt die Zeit schnell vergehen. Hingegen sich die Zeit im Warteraum, beim Arzt sitzend, endlos dahinziehen kann. Schaut man dann noch ständig auf die Uhr scheint die Zeit stillzustehen.
Laut Wissenchaftlern geht die Zeitwahrnehmung auf einen komplexen nicht bewusstseinsfähigen Prozess zurück, in dem Vorlieben, Emotionen und Erregung maßgebend sind. Das Gefühl für Zeit ergibt sich also aus der Intensität und persönlichen Beurteilung eines erlebten Moments.
Seit längerem beschäftigt mich jedoch der Gedanke, wieviel Zeit mir durch den Alkohol verloren gegangen ist! Zeit für das wirkliche Leben. So ca. 18 Jahre kommen da schon zusammen. Gut, es waren nicht zusammenhängende 18 Jahre, denn als Quartalstrinkerin konnte ich anfangs monatelang noch ohne Alkohol auskommen. Doch mit den Jahren wurden die Quartale immer kürzer und am Ende gab es keine Quartale mehr... Die Sucht hatte mich fest im Griff und nahm mir all die kostbare Lebenszeit. Vier oder fünf Trink-Tage in der Woche waren da keine Seltenheit. Jemand sagte einmal, die Sucht ist ein zeitfressendes Monster, welches wertvolle Lebenszeit verschluckt! Dies ist nur zu wahr. Wieviel besser hätte man doch diese Zeit nutzen können! Zeit für Freunde, Familie und Hobbys hat unwiderruflich der Alkohol verschlungen. Diese ganze verpasste, verlorene Zeit für das wirkliche Leben kann man leider nicht mehr zurückholen. Dies macht mich mitunter traurig und wütend.
Steckt man dann erst mal tiefer in der Sucht, kann einem schon jegliches Zeitempfinden verloren gehen. Ab und zu passierte es mir, dass ich beim Aufwachen nicht wusste, ob die Sonne noch auf- oder schon untergeht. Die Tage, Wochen und Jahreszeiten flogen nur so vorbei. Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern, in der ich betrunken auf dem Sofa eingeschlafen war und irgendwann wieder aufwachte. Ich zog mir die Schuhe an und ging aus dem Haus, um mich dann um 3.oo Uhr nachts im tiefen Schnee vor dem Supermarkt wiederzufinden.
Dieses zeitfressende Monster verschluckt jedoch nicht nur die vielen Tage, an denen man getrunken hat, sondern auch die vielen Tage nach dem Trinken, an denen man sich erst wieder vom Trinken erholen musste... Aber all diese Gedanken können die gestohlene Lebenszeit nicht mehr zurückbringen. Ein abstinentes Leben hingegen hält wieder eine riesige Menge an neuer Lebenszeit für uns bereit. Klar, dies kann einem am Anfang schon sehr erschrecken, denn man ist es ja nicht mehr gewohnt, so viel Zeit zur Verfügung zu haben. Die viele Zeit, die man vorher mit dem Alkohol verbracht hat, heißt es ja jetzt auszufüllen und sinnvoll zu nutzen. Dabei können einem anfangs Selbsthilfegruppen eine wichtige Stütze sein. Auch bin ich der Ansicht, dass man den Besuch von Gruppen als eine Art Medizin sehen sollte. So, wie ein Diabetiker täglich sein Insulin benötigt, braucht ein Alkoholiker zum „Überleben“ seine Gruppen.
Wir sollten die Zeit auf dieser Erde nutzen und nicht sinnlos verstreichen lassen. Jeder Augenblick im Leben ist einmalig und wird niemals zurückkehren. Viele Leute hört man sagen; „Später lerne ich eine neue Sprache“, „Später mache ich eine schöne Reise!“, „Irgendwann orientiere ich mich beruflich neu“ oder „Irgendwann erfülle ich mir meinen Traum!“ usw... Es wäre besser, die Worte Später oder Irgendwann aus seinem Leben zu streichen, denn eines Tages gibt es vielleicht kein Später oder Irgendwann mehr! Auch Träume warten nicht ewig auf ihre Erfüllung, denn niemand weiß, wieviel Zeit einem noch auf dieser Erde bleibt. Es kann mitunter später sein, als man denkt.
Manuela K.
Liebe Grüße
Manuela