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Re: In der Spur: Lisa

Dienstag 30. Dezember 2014, 17:22

Ihr Lieben

Die erste Runde der Festtage ist vorbei und es bleiben immer noch mehrere Tage Urlaub. Herrlich.

Ich befand mich seit Anfang Monat in einem Energieloch, das ich in diesem Ausmass zuvor nur aus schlimmen alkoholisierten Zeiten gekannt hatte. Was alles auch immer dazu beigetragen hatte (der Kandidaten sind einige) - es geht wieder bergauf. Seit meinem letzten Urlaub Anfang August hatte ich durchgearbeitet und Unmengen von Überzeit angehäuft. Das monetäre Resultat liegt jetzt auf meinem Konto. Und ich schon eine Weile auf der Coach. Ich setzte nach und nach alle Engagements auf Minimum, bei denen das möglich war und gab mich ausführlich dem Schlaf, viel Lektüre und den weichen Kissen des Sofas hin. Winterschlaf und Rückzug. Bärenhöhle. Macht mal ohne mich.

Erstaunlicherweise litt mein psychisches Befinden nicht zwangsläufig gleich mit. So war weiteres langsames Abdosieren des AD möglich. Es war ganz okay, erschöpft zu sein und auf Sparflamme zu leben. Der Körper holt sich, was er braucht - mein Job ist, ihm die Zeit dafür zu geben und keine Energie zu verschwenden. Ob die tägliche Vitasprint-Ampulle mithalf, kann ich nicht abschliessend beantworten.

Wie vieles andere nicht abschliessend beantwortbar bleibt - und vielleicht künftig auch gar nicht mehr versucht werden sollte. Die Neigung zu alles erklärenden Kausalschlüssen bleibt uns wohl zeitlebens erhalten. Doch einiges, was ich in den vergangenen Monaten aus systemischen Grundlagenbüchern mitgenommen hatte, fängt an, sich niederzuschlagen. „Die Wirklichkeit wird von uns nicht gefunden, sondern erfunden.“

Die eigene (Alkoholiker-)Geschichtenerzählung, wie sie heute klingt, zu vergleichen mit derjenigen, die ich noch vor einem Jahr erzählte, zeigt mir auf, wie sehr ich mich durch meine eigenen Worte forme und begrenze. Es sind keineswegs nur die Zuschreibungen der anderen, die mich definieren und begrenzen. Den grössten Anteil dabei leiste ich selbst, und das nicht nur, indem ich sie in der Not unhinterfragt übernehme, um endlich klare Verhältnisse zu haben.

Mir sind einige Lichter aufgegangen im Lauf dieses Jahres. Leuchttürme. Andere haben an Be-Deutung verloren, haben sich überlebt; die ganze Herkunfts-/Suchtfamilienvergangenheit zum Beispiel. Zur Lösung tragen sie nichts bei – den Fokus noch länger auf sie zu setzen, hält die Problematik eher aufrecht, da an ihnen weder etwas zu beschönigen noch mehr zu ändern ist. Meine ambulante Therapie hatte dazu nichts mehr beizutragen, es schien genügend bewusst und durchgearbeitet (auch durchlitten); ich war versöhnt damit. Und trotzdem geschahen Rückfälle, war der Rausch noch immer eine Zuflucht. Die Lösung begann sich zu entwickeln mit der Entscheidung für Baclofen. Damit trat ich aus dem herkömmlichen Therapieverständnis aus: Sollte es tatsächlich eine Chance geben, auf der neurologischen Ebene eine Veränderung/Verbesserung herbeizuführen: Warum sollte es dann für einen Alkohol-„Kranken“ nicht legitim sein, die medikamentöse Schiene zumindest zu überprüfen? Umso mehr, da mir nicht einleuchten wollte, weshalb Suchtkranke eine Ausnahme von der ungeheuren Plastizität des menschlichen Gehirns sein sollte. Baclofen und die Auseinandersetzung mit Stereotypen hier im Forum wirkten als Katalysator für eine dynamische, sich ent-wickelnde Wirklichkeit, die eine um die andere falsche Begrenzung verliert. (Nebenher verlief übrigens still und undramatisch im Laufe dieses Jahres auch der Abschied von Religion und anderen Mythen.)

Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir je besser gegangen wäre.
..., dass ich je so klar und deutlich wahrgenommen hätte, was ich wirklich will.
..., dass ich mich je selbst so ernst genommen hätte – und gleichzeitig lauthals über mich selbst lachen kann.
..., dass ich jemals so frei von Sorge und Angst war.

Und ich kann mich vor allem nicht erinnern, dass ich das jemals für möglich gehalten hätte.

Meine Lektüre-Empfehlung zum Jahresabschluss: Im lösungsorientierten Umgang mit sich selbst

Ganz herzliche Grüsse an euch alle!

Lisa

Re: In der Spur: Lisa

Mittwoch 31. Dezember 2014, 04:02

Liebe Lisa,

Ich wollte einen adäquaten Abschluss für 2014 schreiben!! Peng.. Lisa war schneller - danke für Deine Worte!!!

Auch ich hatte in diesem Jahr viele Höhen und Tiefen – aber ohne Baclofen? Ich hätte keine Chance gehabt!!

Ich bin zu noch zu müde, jeden genialen Satz von Dir zu wiederholen – ist auch nicht nötig – DANKE!!

Baclofen ist und bleibt eine Krücke, ist kein Wunderheilmittel!! Die eigentliche Arbeit bleibt einem selbst!! ABER.. Es wird transparenter und - zu mindest für mich - durchschaubarer...

So verbleibe ich mit Deinen Sätzen – und wünsche allen Mitlesern einen entspannten, tollen, hoffnungsfrohen Übergang ins neue Jahr 2015..(2015 geht noch nicht so leicht durch meine Finger auf der Tastatur..)

Liebe Grüße Volker

Re: In der Spur: Lisa

Donnerstag 12. Februar 2015, 22:22

Nur kurz ein herzliches Hallo in die Runde!

Es gibt mich noch, auch wenn ich zeitweilig wenig schreibe. Doch mein befriedigendes, befreites Leben hält an. Acht Monate unangestrengte Abstinenz gefolgt von acht Monaten unangestrengt normalem Konsum weit unterhalb jeder WHO-Empfehlung. Null Craving, kein einziger Rausch seit Beginn der Baclofen-Behandlung und keinerlei Sehnsucht nach Vergessen oder Abtauchen aus der Realität.

Die Freiheit der Wahl ist zurück erobert; der Fokus zuverlässig auf dem, wozu ich fähig bin; alles, was mir seither an Widrigem entgegenkam, locker im Bereich des Bewältigbaren. Die Psyche so stabil und belastbar wie noch nie zuvor.

Was in Frankreich im Zusammenhang mit der Baclofen-Behandlung offen angestrebt wird, wird hier nur vorsichtig bis gar nicht kommuniziert: das normale Trinken als Gegenpol zum süchtigen Trinken. Mir ist wichtig, dass es Erwähnung findet.

Baclofen verdient es.

lg
Lisa

Re: In der Spur: Lisa

Freitag 13. Februar 2015, 00:17

lisa64 hat geschrieben:Was in Frankreich im Zusammenhang mit der Baclofen-Behandlung offen
angestrebt wird, wird hier nur vorsichtig bis gar nicht kommuniziert: das normale Trinken als
Gegenpol zum süchtigen Trinken. Mir ist wichtig, dass es Erwähnung findet.

Baclofen verdient es.

Recovery ist möglich :daumen:

LG Federico

Re: In der Spur: Lisa

Freitag 13. Februar 2015, 09:53

Hallo Lisa,

ja, all das, was Du kurz und treffend formuliert hast, kann ich auch für mich bestätigen.

Kleiner individueller Unterschied: "Normaler" Konsum reizt mich nicht mehr. Aber ein gelegentlicher Rausch (sehr selten) ist bei mir drin - ohne Folgen, ohne Risiko (für mich).

Es funktioniert wirklich !!!

LG Tom

Re: In der Spur: Lisa

Freitag 13. Februar 2015, 11:12

Das Undenkbare zu denken, stösst immer auf den Widerstand derjenigen,
die glauben im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein.

Zu dieser Erkenntnis kamen unabhängig voneinander und über die Jahrhunderte hinweg
Galileo Galilei, Johann Wolfgang v. Goethe, Max Planck, Ignaz Semmelweis, Albert Einstein,
Stephen Hawkings, Olivier Ameisen und viele andere mehr.

LG Federico

Re: In der Spur: Lisa

Freitag 13. Februar 2015, 13:32

Hallo Lisa

ich gratuliere Dir zu Deiner Wegfindung!
Und ja, auch Dir @Tom.

Ich bin auf dem Weg und habe dieses Ziel noch nicht erreicht. Aus dem Grunde, welcher @Federico hier anspricht:
Federico hat geschrieben:Das Undenkbare zu denken, stösst immer auf den Widerstand derjenigen,
die glauben im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein.
Es ist mein Umfeld, welches am alten Klischee festhält und wie ein Dogma verkündet: Einmal Alki, immer Alki...
Dieses Stigma fühle ich immer wieder wie auf die Stirne gebrannt. Selbst ein alkoholfreies Bier gibt Anlass zum Nachdenken. Schon allein der Geschmack könnte mich ja auf Assoziationen bringen...

Letzten Sommer konnte ich in einer Gesellschaftsrunde, welche mich gut kennt, aber von meinem Problem nichts wusste, mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit anstossen. Das Glas Wein blieb mit dem letzten Drittel stehen und ich empfand das Ganze als die Selbstverständlichkeit, welcher Alkohol früher in meinem Leben hatte... Nichts von Craving oder weiterem Verlangen, nichts von Kontrollverlust! Ich genoss diesen Abend mit einer grossen inneren Freiheit und erlebte dabei, dass "Recovery" keine Illusion ist! Die Abhängigkeit im eigentlichen Sinne kann besiegt werden...

Bringt das mal den Leuten bei, welche die Funktion von Baclofen nicht verstehen können... :-??

Seit Baclofen leide ich nicht mehr an Craving, sondern unter den Vorurteilen und den Ideologien, welche uns stigmatisieren! Im Radar zu stehen ist der Sache nicht unbedingt förderlich.

LG
moonriver

Re: In der Spur: Lisa

Freitag 13. Februar 2015, 15:01

moonriver hat geschrieben:Seit Baclofen leide ich nicht mehr an Craving,
sondern unter den Vorurteilen und den Ideologien, welche uns stigmatisieren!
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Aus diesem Grund gehe ich nicht mehr
auf Suchtkongresse, die von Apologeten der Pharmaindustrie manifest geprägt,
und von ihr finanziert werden.

LG Federico

Re: In der Spur: Lisa

Montag 16. Februar 2015, 21:43

Lisa hat geschrieben: Null Craving, kein einziger Rausch seit Beginn der Baclofen-Behandlung
Hi Lisa
Bewundernd lese ich deinen Bericht, und finde es sehr schön, dass Baclofen bei dir schon gleich am Anfang die gewünschten Wirkungen erzielt hat. Du und deine Berichte machen anderen Mut, chapeau!

LG

Patrick

Re: In der Spur: Lisa

Sonntag 22. Februar 2015, 16:50

@moonriver:
Es ist mein Umfeld, welches am alten Klischee festhält und wie ein Dogma verkündet: Einmal Alki, immer Alki...
Dieses Stigma fühle ich immer wieder wie auf die Stirne gebrannt. Selbst ein alkoholfreies Bier gibt Anlass zum Nachdenken. Schon allein der Geschmack könnte mich ja auf Assoziationen bringen...

Die Gefahr dabei, sich als Opfer der Stigmatisierung zu verstehen, liegt in der Überzeugung, sich nur daraus befreien zu können, wenn die Umwelt den Wandel auch mitmacht, ihr Placet gibt. Für mich wurde es in diesem Zusammenhang unumgänglich, meine Autonomie geltend zu machen. Offensiv zu Beginn, gern "trotzig" genannt von meinem Umfeld - bestimmt und beharrlich heute. Im Grunde war es ein Glücksfall, mit Baclofen damit zu beginnen: Entgegen Lehrmeinungen und der Laienpsychologie meiner Umgebung auf diese Karte zu setzen.

Denn das Manko an wirklicher Autonomie zog sich durch ein ganzes Leben. Wie lange hatte ich mich gewohnheitsmässig um die Vermeidung von Störungen bemüht - die Reaktionen anderer vorweggenommen und die Konsequenzen meines eigenen Willens nicht einzugehen gewagt. Auch und gerade, wenn es darum ging, meinen persönlichen gescheiten Umgang mit Alkohol zu finden. Braves Mädel, am eigenen Leben und Willen haarscharf vorbei gelebt - nur ab und zu wutschnaubend oder auch giftig aus einer Opferhaltung aufgebraust. Lange Jahre von Alkoholiker-Schuldgefühlen bringen einen dazu, die eigene Autonomie zu unterdrücken (und sie allenfalls eruptiv nur in Rückfällen ausleben zu können)? Für mich persönlich steht dieser Zusammenhang recht offensichtlich fest.

Irgendwo dort stand ich Ende 2013, als ich endlich begann, aktiv und autonom zu wählen und unter die Lupe zu nehmen, wo ich halbautomatisch und unbewusst nicht-wählte. Denn auch wenn nur die Optionen "schlecht" und "mies" zur Wahl stehen: ich treffe immer eine Wahl vor dem Hintergrund der Konsequenzen. Niemand hat je gesagt, wählen bedeute, dass Konsequenzen angenehm sein müssen. Was Baclofen dabei vermochte: mir die klitzekleine Pause zwischen Reiz und Reaktion aufzuzeigen, wo meine Wahl geschieht und mir das Spektrum der Wahlmöglichkeiten öffnen. Heute kann ich die Pause oft fast beliebig ausdehnen - GGG der freien Wahl.

lg
Lisa
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