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Hatschiee … Gesundheit …!

Dienstag 22. Juli 2014, 00:02

Wer kennt das nicht, bei jedem „Hatschie“ wünschen wir uns Gesundheit.
„Glück und Gesundheit“ wünschen wir uns zum Geburtstag und zum zum Jahreswechsel,
eigentlich bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten. Ratiopharm wirbt seit mehr
als 10 Jahren mit dem Slogan: „Gute Besserung!“ Ganz so, als wäre Gesundheit ein Zustand
den man sich herbeiwünschen oder in der Apotheke kaufen könnte. Gesundheit ist aber nach
dem Modell der Salutogenese kein statischer Zustand – Gesundheit ist ein permanenter Prozess.
Das gute daran, Prozesse kann man beeinflussen, steuern, lenken. Leben mit Sinn füllen.

WIKIPEDIA hat geschrieben:Gesund ist kein fixer Zustand, sondern ein ständiger Vorgang, eine ständige Entwicklung
eines Menschen auf einen attraktiven Idealzustand von Gesundheit hin. Wenn wir unsere eigene
Unvollkommenheit mit allen Unannehmlichkeiten, wie Leiden oder auch Behinderungen, bedingungs-
los annehmen, können wir erkennen, dass wir langfristig alle nach der gleichen Vollkommenheit
streben – jeder auf seinem ganz individuellen, einzigartigen, oft chaotischen Weg.

WIKIPEDIA

Anhand dieser wenigen Worte werden die meisten Forenmitglieder erkennen,
warum moderne therapeutische Konzepte das Abstinenzdogma ablehnen und Lapse (Vorfälle)
sowie Relapse (Rückfälle) als zum Prozess gehörend betrachten. Prozesse kann man verändern
und aus Fehlern kann man lernen (try and error).

Einer der dies erkannt und am eigenen Leib erlebt hat, ist Olivier Ameisen.
Wer sein Buch gelesen hat, weiß worauf ich hinaus will. Seite 242-243: „Am 9. Januar 2004
war ich ein 50-jähriger französisch-amerikanischer männlicher Arzt mit Alkoholabhängigkeit
und präexistenter Angst als Komorbidität. Seit 1997 hatte es zahlreiche notfallmäßige
Hospitalisierungen gegeben, Aufenthalte auf Intensivstationen, Entgiftungen, jahrelange
stationäre und ambulante Behandlungen.“


Betrachtet man den Lebensabschnitt im Zeitraum 1997 bis 2009, dem Erscheinungsdatum
von Das Ende meiner Sucht, wird niemand bezweifeln, dass Olivier Ameisen einen Prozess
nach dem Salutogenese-Modell durchlebt hat. Angefangen am 19. August 1997, dem Tag
seiner Notfalleinlieferung in sein eigenes Krankenhaus (Seite 24 bis 26), bei dem er nur knapp
dem Tod entronnen war, bis hin zum Tag „Eins“ seiner Eigenbehandlung mit Baclofen
(Seite 240 bis 250).


Bild

An dieser Stelle ein Bild, Anfang 2010 – in Ravensburg aufgenommen – auf dem ein
humorvoller und sichtlich gesunder Mensch zu sehen ist. So habe ich ihn kennengelernt
und erlebt. So möchte ich ihn in Erinnerung behalten. In den zahlreichen öffentlichen
Auftritten bis zu seinem Ableben am 18. Juli 2013, ist er immer ein leidenschaftlicher Arzt
und unermüdlicher Forscher geblieben. Bei seinem letzten Auftritt am 3. Juni 2013 im Hôpital
Cochin, Paris, war ich zuerst beunruhigt, ob der deutlich sichtbaren Zeichen eines sich
verschlechternden Gesundheitszustands. Olivier Ameisen wirkte sehr nervös, fahrig und
unkonzentriert. Leider war ich nicht persönlich anwesend, ich habe nur die Übersetzung des
Videos bearbeitet und auf unserer Youtube Seite eingepflegt. Jivaro war bei diesem historischen
Anlass
zugegen und kann meinen Eindruck bestätigen.

Von der Ehre, eine Rede aus diesem Anlass halten zu dürfen, hatte er erst wenige Stunden
zuvor erfahren. Sichtlich bewegt aber auch gestresst, verhaspelte er sich mehrmals,
der Alterungsprozess schreitet unaufhaltsam fort. Seine im Buch beschriebene Odyssee
bis zur „Gleichgültigkeit“ hat natürlich Kraft gekostet. Irgendwann geht auch die erstaunlichste
Salutogenese in die Pathogenese über. Auch das ist Leben, gehört zum Leben – nichts bleibt so,
wie wir es uns wünschen.

Das Thema „Recovery“ beschäftigt mich schon viele Jahre, ich habe nie aufgehört daran
zu glauben, dass es möglich ist. Der Glaube an die eigenen Ressourcen die jeder Mensch
besitzt, ist ungebrochen. Der gewählte Zeitpunkt das Thema „Recovery“ jetzt im Forum
zur Diskussion zu stellen, ist natürlich kein Zufall:

Olivier Ameisen ist am 18. Juli 2013 verstorben. Eine wachsende Anzahl von Menschen
in Frankreich und Deutschland glaubt daran, dass mit seiner Entdeckung ein neues Kapitel
in der Geschichte der Alkoholabhängigkeit aufgeschlagen wurde.

Wie denkt Ihr darüber?

LG Federico
Recovery ist (jetzt) möglich !

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Dienstag 22. Juli 2014, 08:16

Federico hat geschrieben:Anhand dieser wenigen Worte werden die meisten Forenmitglieder erkennen,
warum moderne therapeutische Konzepte das Abstinenzdogma ablehnen und Lapse (Vorfälle)
sowie Relapse (Rückfälle) als zum Prozess gehörend betrachten. Prozesse kann man verändern
und aus Fehlern kann man lernen (try and error)."

"Recovery ist (jetzt) möglich !“


Vielen Dank, lieber Federico, für diesen wunderbaren Beitrag !!!

Auch ich war und bin seit langer Zeit davon überzeugt, dass Recovery möglich ist.
Ich habe lange gesucht. Nach meinen fast 20 Jahren absoluter Abstinenz, meiner gleichzeitigen Suche nach Lösungen der vorausgegangenen Erkrankungen, ANGST und Depression, gelang mir ein kontrolliertes Trinken vor 12 Jahren auf die Dauer nicht. Dennoch suchte ich weiter, weil ich von einer anderen Lösung als der aufdiktierten absoluten Abstinenz überzeugt war.
Im Sommer 2011 fand ich dann zu Olivier Ameisens Buch, das eine große Veränderung in meinem Leben möglich gemacht hat.
Baclofen ist für mich keine "Wunderdroge", einwerfen und alles ist "heil". Sie macht mir deutlich, dass meine Überzeugung richtig ist. Mein Weg der Salutogenese mit Baclofen ist ein Weg des Handelns, der Aufmerksamkeit, der täglich bewussten Entscheidung.
Nichts ist "sicher", aber alles ist möglich !!!

Dieses Foto von Olivier Ameisen finde ich sehr schön. Heute früh habe ich noch mehrere Beiträge im Internet, bei You Tube angesehen. Mich hat schon im letzten Jahr das Video von seinem letzten Auftritt betroffen gemacht. Er wirkte so kraftlos und erschöpft, die sprühende Lebendigkeit seiner Augen fehlte.
Er hat uns so sehr geholfen. Ich empfinde große Dankbarkeit.
Uns allen viel Kraft, Mut und weiterhin einen regen Austausch hier in diesem wertvollen Forum !

Viele liebe Grüße an dich Federico und alle Forenmitglieder von

Trudi

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Dienstag 22. Juli 2014, 08:58

Lieber Federico

Danke für diese Worte zum Todestag O. Ameisen!
In einem besseren Kontext kann man diesen heutigen Tag nicht darstellen.

LG
moonriver

PS: Dies gibt mir den Anlass, das Buch nach 3 Jahren noch einmal zu lesen... in Dankbarkeit und unveränderter Hoffnung.

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Dienstag 22. Juli 2014, 09:35

moonriver hat geschrieben:Dies gibt mir den Anlass, das Buch nach 3 Jahren noch einmal zu lesen...

@Lieber Moonriver,

trotz der Gefahr, dass manche es als Exegese betrachten werden, kann ich Dich in
Deinem Vorhaben nur bestärken. Bei einigen wenigen Büchern kommt es einem so vor,
als wären in der Zwischenzeit neue Texte hinzu gekommen ...

LG Federico
Denkwürdiges Interview mit Pia Heinemann aus dem Jahr 2010

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Donnerstag 21. August 2014, 13:25

Rethink Mental Illness : 100 Wege, um Recovery zu unterstützen
Ein Leitfaden für psychiatrische Fachpersonen

LESEFUTTER für Fachpersonen? Nein, aus der Einleitung:

Für andere im psychiatrischen Gesundheitswesen Beteiligte, wie Dienstleistungsnutzende* und deren Angehörige, dürfte sie ebenso einen relevanten Beitrag zur öffentlichen Debatte über Recovery und psychische Gesundheit leisten.

*Dienstleistungsnutzende wird durchgängig statt "Patienten/Klienten/Kranke" verwendet. Damit sind wir gemeint. Im weiteren hat der englische Autor Mike Slade der deutschsprachigen Übersetzung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass das Dokument im Internet frei verfügbar ist.

Die am häufigsten genutzte Definition der persönlichen Recovery stammt von William Anthony (1993)2:

ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess im Hinblick auf die Einstellungen, Werte, Gefühle, Ziele, Fähigkeiten und/oder Rollen eines Menschen im Leben und eine Möglichkeit, auch mit den Einschränkungen durch die Erkrankung ein befriedigendes, hoffnungsvolles und aktives Leben zu führen. Recovery beinhaltet die Entwicklung einer neuen Bedeutung und eines neuen Sinns im Leben, während man über die katastrophalen Auswirkungen der psychischen Erkrankung hinauswächst.


Verändern und wachsen, einzigartig und individuell.
Weder nach Schema noch Diagnose, sondern mir oder dir gemäss.

Die Wege lassen sich durchaus auch so lesen: Wie kann ich mich selbst aus dieser Haltung heraus begleiten? Was würde das ändern?

Aber lest selbst.

LG
Lisa

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Donnerstag 21. August 2014, 14:25

Ich habe mir erlaubt dieses Fundstück von @Lisa in ein neues Thema zu verschieben.
Weil ich es für zu wichtig erachte.

Recovery ist möglich

Danke @Lisa

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Donnerstag 21. August 2014, 15:05

Danke liebe Lisa,

Toller Artikel!!!

LG Volker

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Donnerstag 21. August 2014, 19:16

Liebe Lisa,

auch von mir ein ganz herzliches Dankeschön ! :-bd
Ich habe den Artikel bisher nur überflogen aber ich bin jetzt schon sicher,
dass sich eine ausführliche Lektüre lohnt. Toll !

Liebe Grüße ins Schwyzerländli,
Werner

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Freitag 22. August 2014, 14:36

Hallo
und danke an @lisa für diesen interessanten Artikel, den ich nur überflogen habe, aber ich wollte schnell sagen, dass ich mich in dieser Definition 100%ig wiederfinde und meine persönliche 'recovery' genauso erlebt habe.
Die am häufigsten genutzte Definition der persönlichen Recovery stammt von William Anthony (1993)2:
ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess im Hinblick auf die Einstellungen, Werte, Gefühle, Ziele, Fähigkeiten und/oder Rollen eines Menschen im Leben und eine Möglichkeit, auch mit den Einschränkungen durch die Erkrankung ein befriedigendes, hoffnungsvolles und aktives Leben zu führen. Recovery beinhaltet die Entwicklung einer neuen Bedeutung und eines neuen Sinns im Leben, während man über die katastrophalen Auswirkungen der psychischen Erkrankung hinauswächst.

Und das Erstaunliche daran ist, diesen Weg der 'recovery' konnte ich ausschließlich mit einem kleinen unscheinbaren Medikament (ironie*off* ;-)) und dem Austausch in einem 'kleinen unscheinbaren Forum' :ymhug: finden. Und ich kann heute sagen, nachdem mein Leben nach 20 jähriger Abhängigkeit fast zerstört war, gesundheitlich, emotional, familiär, sozial, beruflich usw., sehe ich heute wieder aus wie das 'blühende' Leben und führe so wie es hier steht
ein befriedigendes, hoffnungsvolles und aktives Leben
Meine Ärztin wie auch meine Therapeutin können es manchmal noch gar nicht fassen, was da geschehen ist, und gucken so :-o , wenn sie mich heute sehen. Leider glauben sie nicht wirklich an die Möglichkeiten von Baclofen, halten es für ein Placebo oder so, denken, ich sei ein Einzelfall, der einfach Glück gehabt hat. Zu tief sitzt auch bei den 'Fachleuten' der Gedanke, einmal krank, immer krank.

Ihr seht daran, wie einzigartig unser Forum hier ist, wie wichtig. Danke an alle, die sich hier engagieren, auch an die, die unermüdlich Literatur sammeln und zusammentragen. Und allerletzte Bemerkung von mir zu den kürzlich hier aufflammenden Diskussionen auf Nebenschauplätzen. Bitte so was keinen Raum mehr geben! Ihr seht ja, wir haben hier wirklich wichtigeres zu tun!

Liebe und herzliche Grüße an euch, all ihr wundervollen Leute :-h
Betty

Re: Hatschiee … Gesundheit …!

Freitag 22. August 2014, 16:45

Liebe Lisa,

....und auch ich reihe mich ein. Dankeschön! Wichtiger Artikel!!

Der Kasten auf S.7: Traditioneller Ansatz vs. Recovery Ansatz fasst es dann auch schön zusammen. Und ich kann spontan zu allen Ansätzen des Recovery Ansatzes Ja sagen.

Besonders gut gefallen mir hier folgende Gegenüberstellungen:

Basiskonzepte

Traditionel: Wissenschaft
Recovery: Humanismus

Arbeitspraktiken
Traditionel: Krankheitbasiert
Recovery: Stärkenbasiert

Traditionel: Individuum passt sich an das Programm an
Recovery: Fachperson passt sich der Person an

Ziele der Betreuung
Traditionel: Rückkehr zur Normalität
Recovery: Transformation

Ich denke, die Diskussion zum Thema sollte dann aber wohl drüben, im neuen Thread zum Artikel geführt werden. Das musste jetzt nur mal spontan raus. Ansonsten glaube ich, dass mich das Thema Recovery die nächsten Jahre noch sehr beschäftigen wird, denn nichts anderes strebe ich an und ich glaube, ich bin in dem Prozess auch schon ganz gut drinnen. Wie viele hier. :-h

Was mir aber erst jetzt so langsam bewusst wird...

LG Nordlicht

P.S.: Wie findest Du bloß immer so tolle Artikel? :daumen:
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