Sonntag 11. März 2012, 10:29
Hallo Dieter
Spontan kommt mir dazu in den Sinn:
Das überwältigende Gefühl des Cravings hatte für mich immer den Charakter einer Vorfreude, verbunden mit einer Energie, welche sich ähnlich wie "Schmetterlinge im Bauch" anfühlte. Es baute sich eine Energie auf bis zu einem "point of no return". Das war dann jeweils der Moment etwas Hochprozentiges zu organisieren... gewissermassen um dieses Energiepotential umzusetzen (das Bewusstsein etwas zu erweitern war immer meine "Ausrede"). Im Grunde genommen habe ich auf diese Art viel Kreativitätspotential, Lebensfreude, Verwirklichung von mir selbst etc. den Bach runter gelassen. Das innere Suchen endete in der Sucht. Sie hatte mich ungefragt gefunden und nicht mehr losgelassen. Die Energie war dann raus und sinnlos verpufft, was sich am nächsten Tag in einem Mordskater äusserte. Diesen mit einer neuerlichen Gabe von Alkohol etwas erträglicher zu gestalten führte dann nach einiger Zeit zu der berüchtigen Suchtspirale. Das schwarze Loch, welches alles zu absorbieren beginnt war geboren. Und damit der langsame, unaufhaltsame Zerfall meiner Restkreativität...
Baclofen hat mich nicht "einfach so" vom Suchtdruck befreit, nein, aber es brachte mich auf eine etwas grössere Umlaufbahn und gab mir die Möglichkeit (tut es nach 1 Jahr immer noch) mich und meine Automatismen aus mehr Distanz zu betrachten. Wie ein nicht mehr so ganz daran Beteiligter. Vielleicht wird dies von einigen als seltsame Nebenwirkung empfunden (man steht etwas neben sich oder ähnlich...). Für mich war es jedoch gerade eine der intensivsten Komponenten des Wirkungsspektrums: mich und mein Handeln mit dem dafür nötigen Abstand zu erleben.
Dadurch wurde es mit Geduld, etwas Übung und auch Willen möglich, diese Eingangs beschriebenen Craving-Energie in andere Bahnen zu lenken bevor sie meine Suchtrezeptoren total in Beschlag nahm. Hier sehe ich die Wirksamkeit von Bac. Bac allein ist nicht die Wunderpille, aber sie kann das innere Milieu schaffen, diesen Weg selber zu gehen. Es kann der Weg in eine kaum mehr gekannte Freiheit sein. Zurückblickend kann ich sagen: es fehlte vorher nicht an Wunsch und Wille. Alkoholabhängigkeit hat nichts mit Willensschwäche oder Charakter zu tun. Dies ist ein uraltes, fast dogmatisches Vorurteil. In verschiedenen Kreisen wurde es sogar zum Dogma erklärt, mit einer fast hypnotischen Wirkung... dort vermisse ich eh den Hinweis auf Hoffnung... Ideologien, elitäres Denken und Dogmen sind der Keim manches Entgleisens in der Menscheitsgeschichte. Uff, etwas off topic, aber irgendwie gehört es auch hier rein.
Keiner von uns Betroffenen ist in diesem Sinne schwach! Wir sind doch alle mit voller Stärke auf der Suche nach dem Aus-Weg. Raus aus dieser schon lange als sinnlos erkannten Spirale. Manchmal prallen wir aber wieder an die Mauer und schlagen den Kopf wund... Das soll uns nicht beirren.
Was ich Dir, Dieter, eigentlich sagen wollte: Im Grunde genommen hast Du trotzdem schon Fortschritte gemacht. Vergleiche Deinen momentanen Status mit vorher und mache Dir keine Selbstvorwürfe.
Hier ein Rezept aus meiner "Trickkiste": Was mir seit jungen Jahren immer wieder geholfen hat (auch durch dunkle Stunden auf dem Weg des Seins und Erlebens) ist ganz einfach ein Blatt Papier, ein Notizbuch und was zum Schreiben. Ja, ich höre es... heute nimmt man dafür die bekannten elektronischen "Schiefertafeln". Papier und Bleistift ist nur was für altmodische, zukunftsverweigernde Zeitgenossen. Ich bin da anderer Ansicht. Das Werden von Worten und Gedanken auf dem Papier durch Handschrift hat einen therapeutischen Charakter... und eine damit verbundene Rückkopplung auf das eigene Erleben.
Es muss und soll kein "Trink-Tagebuch" oder eine Dosierungstabelle darstellen. Nein, dafür nehme sogar ich Excel zur Hilfe
Es soll ein Abbild in Worten von den momentanen Stimmungen, Gefühlen und Gedanken darstellen und etwas ganz Privates sein. Mir hat es immer geholfen, aufkommende Wünsche, Sehnsucht und Gedanken in Worte zu transformieren. Sonst bekomme ich gewissermassen einen "Schreibstau"...
Je nach Veranlagung vermag bei anderen Menschen auch sportliche Aktivität in der Natur, Meditation oder sonst eine kreative Tätigkeit dasselbe zu bewirken. Wichtig erscheint mir die Möglichkeit, einen Ausdruck zu schaffen. Es geht um die Formgebung der Gedankenmuster und Gefühlsassoziationen. Vermutlich handelt es sich hierbei um tiefe universelle Gesetzmässigkeiten vom "Werden und Sein". "Der Körper folgt den Gedanken, früher oder später" (Möwe Jonathan 1974).
Ohne diese mentale Seite hätte ich aufgrund meines technischen Berufes schlechte "Überlebenschancen" in dieser Welt. Ich brauche einen Ausgleich für mein "digitales Schaffen". Und hier greifen die für mich sinnvollen Nebenwirkungen von Baclofen voll durch (nebst den auch unerwünschten, aber diesen Preis bezahle ich): Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, Schärfung der Sinneswahrnehmung und Verbesserung der Ausdrucksmöglichkeit. Etwas mehr Ruhe in der Seele. Unterstützung der sich im Gange befindlichen Wandlung von Ur-Ängsten zum Ur-Vertrauen.
Bac selber produziert nichts, was nicht schon in irgend einer Form vorhanden ist, aber es kann heissgelaufene Bremsen lösen und einem auch unangenehme Dinge vor Augen führen. Hilfe auf dem Weg der (Selbst)-Erkenntnis? Etwas scheint wieder in Resonanz gekommen zu sein...
Jedenfalls ist es zu einer interessanten Komponente in meinem Leben geworden. In Sachen Alkohol vielleicht die alles Entscheidende.
Dieses Medikament vermag der Sucht ein Gesicht zu geben. Sie wird damit überhaupt erst (er)fassbar und damit behandelbar.
LG moonriver