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Re: Schweiz: Tagung Herausforderung Baclofen 11.12.2014

Mittwoch 17. Dezember 2014, 00:50

Eigentlich wollte ich auf die Aufschaltung der Tagungsbeiträge warten, die in Aussicht gestellt wurden. Aber das scheint zu dauern. Darum kurz, was mir geblieben ist vom letzten Donnerstag in Genf – meinen Perfektionismus beiseite lassend:

Die Schweiz ist ein kleines Land, die französischsprachige Westschweiz (Romandie) mit 1.75 Mio Einwohnern geradezu ein Winzling. Rund 90 Anmeldungen aus dieser Region für die Tagung sind beachtlich. Mitarbeitende der HUG (Genfer Universitätsspitäler) aus unterschiedlichen Abteilungen, Vertreter aus der institutionalisierten Suchttherapie-Landschaft und praktizierende Ärzte stellten das Gros der Teilnehmenden. Zwei Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit und einen Journalisten des Westschweizer Fernsehens erwähne ich speziell, und auch von den französischen Foren war der eine oder andere Vertreter anwesend. Und eine Lundbeck-Entsandte.

Vorab: Die Ankündigung von Philippe Jaury, dass er noch nicht mit Ergebnissen zu Bacloville dienen könne, wurde vom Auditorium mit hörbarer Enttäuschung aufgenommen. Die Auswertung verzögere sich, weil noch nicht alle Daten aus den Arztpraxen zurückgekommen seien. Seine Präsentation (ich hoffe, sie wird ins Netz gestellt) konnte aufwarten mit ausgewerteten Daten zu Zusammenhängen zwischen Gefährdungsfaktoren und dem Auftreten von Abhängigkeit sowie der Erläuterung der zusätzlich zu erwartenden Outcomes. (Ich habe eine Grössenordnung von 250 bisher auswertbaren Patientenverläufen (von total 320) im Kopf – aber ich fürchte, was Zahlen angelangt, bin ich nicht verlässlich.) Die ausgewerteten Resultate werden also (wie von DonQ vorab gemeldet) Mitte Januar in Aussicht gestellt. Jaury erwähnte zudem, dass die Alpadir-Resultate seit kurzem vorhanden seien und dass der Alpadir-Sponsor Etypharm an den Bacloville-Resultaten Interesse gezeigt habe.

Erstaunlicherweise wurde allgemein nur kurz angetippt, was Baclofen ist und auf welche Weise es wirkt. Man scheint in der Romandie von vorhandenem Grundlagenwissen ausgehen zu können.

Drugs looking for deseases: Der Medizin-Historiker Panese erläuterte, dass Medikamente, die "sich ihre Störungen (und damit auch Indikationen) suchen" - oder "sich selbst neu sozialisieren", nicht von ungefähr kommen, sondern dass solche Entwicklungen bekannt sind und oft sogar die Definitionen von Krankheitsbildern/Störungen zu erweitern und/oder zu differenzieren vermögen. Zudem erinnerte er an das Beispiel der HIV Patientenbewegungen (treatment activists) in den USA und deren Vorwürfe gegenüber der FDA wegen Verschleppung von Therapiefortschritten.

Der Beitrag von Olivier Ameisen’s Bruder Jean-Claude Ameisen handelte von der Freiheit der Wahl jedes einzelnen und dem offenen und lebendigen Charakter des Wissens: Keine echte Wahl ohne Freiheit, keine wirkliche Freiheit ohne Unsicherheit, und nur mit dem Wissen um ihre Unwissenheit könne die Wissenschaft das Wissen von morgen wagen.

Prof. Zullino (HUG Genf) wandte sich pointiert gegen eine verfrühte Verscheibung ohne Datenlage von höchster Evidenz, indem er Daniel Kahnemann's "Schnelles Denken, Langsames Denken" dazu benutzte, Mediziner, die im Rahmen der RTU oder off label verschreiben, auf instinkthaftes Denken und Handeln zu reduzieren – ohne zu berücksichtigen, welchen Zweck das französische Instrument RTU verfolgt und welche Datenlage vorhanden sein musste, um es überhaupt genehmigen zu dürfen. Philippe Jaury, Pascal Gache und J.C. Ameisen korrigierten in der nachfolgenden Diskussion entsprechend.

Die Präsentation von Pascal Gache wurde leider Opfer von technischen Pannen. Gewohnt souverän und humorvoll führte er unbeeindruckt aus, wie sich der State of the Art in der Anwendung von Baclofen präsentiert und mit welchen Fragen sich der Behandler konfrontiert sieht. Dass das Publikum ihm wohlgesonnen war, war offensichtlich; als ehemaliger Arzt der Unité d'alcoologie der HUG ist er kein Unbekannter. Eine verschreibende Allgemeinmedizinerin konkretisierte diese Ausführungen später mit drei Fallbeispielen aus ihrem Praxis-Fundus.

Der Alkoholmediziner Favrod-Coune informierte, Baclofen werde in der HUG mit aller Vorsicht schon angewandt - allerdings als 3rd-line-medication nach den zugelassenen zwei Acamprosat und Naltrexon und nicht in allen Abteilungen. Er erwarte mit Interesse die Resultate aus Frankreich und signalisierte Bereitschaft, auf positive Resultate zu reagieren.

Marion Gaud von Aubes schliesslich erläuterte Geschichte und Anliegen der Foren. Die beiden letzten Programmpunkte Präventivmedizin und Debatte gingen leider an mir vorbei.

Im Gesamten nahm ich positive Eindrücke aus Genf mit. Baclofen scheint in der Romandie Akzeptanz und viel Interesse zu geniessen.

Lg
Lisa

Re: Schweiz: Tagung Herausforderung Baclofen 11.12.2014

Mittwoch 17. Dezember 2014, 01:06

Danke liebe Lisa für diesen Bericht.
Nur schade, dass Prof. Soyka offenbar nicht teilgenommen hat.

Liebe Grüße in die "kleine" und doch so wichtige Schweiz

Werner

Re: Schweiz: Tagung Herausforderung Baclofen 11.12.2014

Mittwoch 17. Dezember 2014, 13:12

lisa64 hat geschrieben:Der Beitrag von Olivier Ameisen’s Bruder Jean-Claude Ameisen handelte von der Freiheit der Wahl jedes einzelnen und dem offenen und lebendigen Charakter des Wissens: Keine echte Wahl ohne Freiheit, keine wirkliche Freiheit ohne Unsicherheit, und nur mit dem Wissen um ihre Unwissenheit könne die Wissenschaft das Wissen von morgen wagen.

Yep .... was für ein Satz.

Danke Lisa für Deine Teilnahme an diesem Kongress und für diesen Bericht.

LG Federico

Re: Schweiz: Tagung Herausforderung Baclofen 11.12.2014

Sonntag 21. Dezember 2014, 11:05

Vier Präsentationen der Genfer Baclofen-Tagung sind im Netz:

http://www.grea.ch/formations/presentations

(Die Vierte wurde falsch bezeichnet oder verlinkt.)

lg
Lisa
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