Mittwoch 2. Juni 2010, 14:51
Da wir alle miteinander an chronischer Ungeduld zu leiden scheinen, ist die wichtigste Erkenntnis: O. Ameisen startete seinen Selbstversuch am 22.03.2002 (S.154) mit 3x5mg/tägl. – erst am 14.02.2004 (S.174) berichtete er von seiner „Heilung“ und der völligen Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol mit der Dosierung von 270mg/tägl. Dies entspricht einer Dosis von fast 4mg/pro kg Körpergewicht.
Das sind fast 2 Jahre gewesen. In Worten ZWEI JAHRE. Die überwiegende Zeit verbrachte Olivier mit einer Dosierung von 180mg und wie man nachlesen kann, erheblichen Mengen von Alkohol. Von Anfang an war allerdings die spürbare angstlösende Wirkung. Nicht tauglich war ein Versuch mit Topiramat über 12 Wochen (S.166), Baclofen schlich Ameisen für diesen Zeitraum komplett aus.
Donnerstag 3. Juni 2010, 15:42
Seite 154:
Am 22. März 2002 begann ich den Empfehlungen von John Schaefer
entsprechend mit der Einnahme von Baclofen in der Dosierung von
dreimal 5 Milligramm täglich, dafür halbierte ich die Tabletten. Sofort
verspürte ich eine Muskelentspannung, die ich geradezu unglaublich
fand, und bereits in der ersten Nacht schlief ich wie ein
Baby. Nie zuvor hatte ich eine so dramatische Wirkung erlebt, und ich
hätte so etwas nie für möglich gehalten.
Seite 174:
Am Samstag, dem 14. Februar, am 38. Tag meines Baclofen-Proto
kolls, war ich bei 270Milligramm täglich, das Neunfache der Dosis,
die Giovanni Addolorato bei seinen Versuchen mit Baclofen gegen
Alkohol-Craving verwendete. Rebecca wollte, dass ich sie am Nachmittag
zum Tee ins Hotel Le Lodge Park begleitete, das eleganteste
Haus in Megève. Das Hotel besitzt eine große Bar und eine weitläufige
Lounge, beide gleichermaßen bekannt dafür, dass man sehr gut
Leute beobachten und atemberaubende Ausblicke auf die Landschaft
genießen kann. Ich fürchtete, dass ich dort vor allem trinkende Menschen
sehen würde, ging aber trotzdem mit.
Wir kamen gegen fünf Uhr an, als es noch nicht ganz dunkel war
und wir noch die herrliche Aussicht hatten. Wir fanden einen freien
Tisch, und ich holte mir Le Monde und die International Herald Tribune.
Beide Zeitungen las ich penibel jeden Tag, und ich dachte, hier
könnte die Lektüre eine gute Ablenkung sein, dass ich die trinkenden
Menschen weniger beachtete.
Wir bestellten Tee, Rebecca beobachtete die anderen Gäste, ich las
meine Zeitungen. Nach fünf oder zehn Minuten blickte ich auf.
Rechts neben mir saß ein Mann in einem Sessel und trank eine dunk -
le Flüssigkeit, Whiskey oder Cognac, vermutete ich – und es war mir
egal. Ich schaute wieder in meine Zeitung, und es dauerte ein bis zwei
Minuten, bis ich das gleichgültige Gefühl bewusst registrierte.
Das ist interessant, dachte ich.
Ich blickte wieder auf und zu dem Mann in dem Sessel. Inzwischen
hatten sich zwei weitere Personen hinzugesellt, die drei prosteten
sich zu. Wieder war es mir egal. In all den Jahren meines Alkoholikerdaseins
hatte ich das nicht erlebt. Das Baclofen hatte es in fünf
Wochen geschafft.
Ich ließ meine Augen durch den Raum wandern und riskierte
sogar einen Blick auf die Bar mit den schimmernden Flaschen. Sie riefen
mich nicht mehr, wie sie es so lange getan hatten. Ich sah Menschen
mit unterschiedlichen Getränken: Kaffee und Tee, Limonade,
Bier, Champagner, Schnäpse. Kein Gedanke an Alkohol kam mir in
den Sinn, kein Craving plagte mich.
Ich dachte: Das ist entweder ein Märchen oder ein Traum. Im
nächsten Augenblick wird der Zauber brechen, und ich werde mit
dem schrecklichen Bedürfnis zu trinken aufwachen.
Es geschah nicht.
Eine halbe Stunde später machten Rebecca und ich uns auf den
Heimweg zum gemeinsamen Abendessen mit ihrer Familie. Der
Zauber brach immer noch nicht, der Traum endete nicht. An dem
Abend verspürte ich erstmals seit Beginn meiner Sucht kein Verlangen
nach Alkohol.
Seite 166:
Über zehn Tage hinweg reduzierte ich meine Baclofen-Dosis auf
null. Mit meinem Arztausweis kaufte ich Topiramat, und dann nahm
ich entsprechend dem Protokoll aus dem Lancet-Artikel über zwölf
Wochen Topiramat und steigerte dabei die Dosis von 25 auf 300Milligramm
täglich.
In dem gesamten Zeitraum verminderte das Topiramat mein
Craving nach Alkohol nicht merklich, und es half nicht im Gerings -
ten gegen meine Angst und Muskelverspannungen, wie es Baclofen
tat. Ebenfalls im Gegensatz zu Baclofen hatte Topiramat unangeneh -
me Nebenwirkungen wie Konzentrationsstörungen und Beeinträchtigung
des Gedächtnisses, die auch nach längerer Einnahme nicht
verschwanden. Was die Wirkung gegen den Alkoholismus wie das allgemeine
Wohlbefinden anbetraf, wirkte Baclofen bei mir eindeutig
besser. Und wieder überlegte ich, ob eine höhere Dosis als 180 Milligramm
pro Tag wohl sicher wäre.
Alle Textzitate aus „das Ende meiner Sucht“ von Dr. Olivier Ameisen
mit freundlicher Genehmigung des Verlag Antje Kunstmann, München http://www.kunstmann.de/
Donnerstag 3. Juni 2010, 17:00
Donnerstag 3. Juni 2010, 17:42
Seit Baclofen im Februar 2004meinen Alkoholismus unterdrückt
hatte, interessierte mich Alkohol nicht mehr. Aber schließlich tauchte
doch die Frage auf, wie rückfallgefährdet ich tatsächlich war. Würde
ein Drink mich wieder in die Hölle des Alkoholismus zurückwerfen?
Steckte ich noch mittendrin im Elend oder war ich dank Baclofen
draußen?
Im Mai 2005, 16Monate nach meinem letzten Drink, unterzog ich
meine Genesung durch drei Tests nacheinander der Feuerprobe.
Der erste Test: Ich nahm weiter meine Erhaltungsdosis von 120
Milligramm Baclofen täglich und trank bei einem geselligen Anlass
drei normal große Drinks (Gin mit Tonic), verteilt über ein paar
Stunden. Sofort bemerkte ich, dass ich nicht den Drang verspürte, das
erste Glas schnell hinunterzukippen, wie es während meiner Alkoholabhängigkeit
immer gewesen war. Stattdessen gefiel es mir, es langsam
über 40 Minuten auszutrinken. Der zweite Gin Tonic, den ich
ebenfalls langsam trank, erzeugte eine milde Euphorie. Ich nippte an
dem dritten, konnte das Glas aber nicht austrinken, was früher einfach
undenkbar gewesen wäre. Beim Aufwachen am nächsten Morgen
fühlte ich mich vollkommen normal, hatte weder Gewissensbisse
noch Angst und Schuldgefühle wegen des Alkohols wie früher immer.
Außerdem verspürte ich keinerlei Craving nach Alkohol, und in den
nächsten Wochen musste ich weder im Wachzustand an Alkohol denken
noch träumte ich davon.
Beim zweiten Test nahm ich weiter meine Erhaltungsdosis von
120 Milligramm Baclofen, steigerte aber den Alkohol. Ich konsumierte
fünf Standarddrinks, diesmal Wodka mit Tonic, in größerer
Runde über einen Zeitraum von sechs Stunden. Wieder empfand ich
keinen Drang, rasch zu trinken, und verspürte nur eine leichte Euphorie.
Aber am nächsten Nachmittag hatte ich einen Anflug von
Craving. Zusätzliche 40 Milligramm Baclofen unterdrückten das
Craving.
Mehrere Stunden später meldete sich das Craving wieder, vermutlich
hatte die größere Alkoholmenge bei dem zweiten Versuch
meinen alten Craving-Zyklus reaktiviert. Ich steigerte meine tägliche
Baclofen-Dosis auf 180 Milligramm, und das Craving verschwand
vollkommen. Im Laufe der nächsten sechs Tage reduzierte ich meine
Dosis wieder auf 120 Milligramm, ohne dass das Craving zurückkehrte.
Das war nach den Tierexperimenten und meinen früheren
Selbstversuchen ein weiterer Hinweis, dass die symptomunterdrü -
cken de Wirkung von Baclofen von der Dosierung abhängt, dass in
Zeiten von Stress höhere Dosierungen erforderlich sein können
und dass die wirksame Erhaltungsdosis niedriger ist als die
symptomunterdrückende Dosis.
Dementsprechend bestand der dritte und letzte Test darin, zu sehen,
ob eine höhere als die übliche Dosis von Baclofen verhindern
könnte, dass Craving überhaupt auftrat, selbst wenn ich erhebliche
Mengen Alkohol konsumierte wie bei starkem Trinken oder einem
Rückfall. Am Tag des Tests nahm ich insgesamt 140Milligramm ein:
30Milligramm am Morgen, 30Milligramm acht Stunden später und
80 Milligramm am Abend, als ich gleichzeitig eine Dreiviertelliter-
Flasche Scotch öffnete. Den Rest des Abends trank ich vier Fünftel der
Flasche, rund 600Milliliter.
Am nächsten Morgen hatte ich einen leichten Kater, aber kein
Craving und kein Bedürfnis, weiter zu trinken. Ich nahm 140 Milligramm
Baclofen und am Abend noch einmal 80Milligramm. An den
nächsten sechs Tagen blieb ich bei dreimal 60 Milligramm pro Tag,
morgens, mittags und abends, und kehrte danach zu meiner üblichen
Dosis von 120Milligramm zurück, ohne Craving zu verspüren.
Es war gut zu wissen, dass ich mit Baclofen Alkohol trinken
konnte, ohne wieder abhängig zu werden. Seitdem habe ich bei seltenen
Gelegenheiten ein oder zwei Glas Champagner getrunken oder
einmal Wodka mit Tonic oder einen Gin Tonic, wenn ich mit Freunden
zusammen war. Aber in Anbetracht der Alkoholmengen, die ich
in meiner Zeit als Trinker meinem Körper zugemutet habe, ziehe ich
es vor, nichts zu trinken.
Alle Textzitate aus „das Ende meiner Sucht“ von Dr. Olivier Ameisen
mit freundlicher Genehmigung des Verlag Antje Kunstmann, München http://www.kunstmann.de/