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Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Samstag 22. Februar 2014, 17:56

Beschluss des G-BA: Arzneimittel zur Alkoholentwöhnung bedingt verordnungsfähig

Die Deutsche Apotheker Zeitung berichtet:

Zukünftig können alkoholkranke Patienten übergangsweise Arzneimittel zur Alkoholreduktion auf Kassenkosten verordnet bekommen, wenn sie dadurch auf eine Abstinenztherapie hingeführt werden. „Eine medikamentöse Therapie soll Betroffene dabei unterstützen, weniger Alkohol zu trinken und auf diese Weise zu einer Abstinenztherapie bewegen“, erklärt Hecken. Denn das übergeordnete Ziel der Behandlung der Alkoholabhängigkeit bleibe die völlige Abstinenz, bekräftigte Hecken.

Entsprechende Arzneimittel können bis zu drei Monate zulasten der GKV verordnet werden, in begründeten Ausnahmefällen maximal sechs Monate. Die Verordnung soll zudem von Ärzten ausgeführt werden, die in der Behandlung von Alkoholabhängigkeit erfahren sind. Der Beschluss wird dem Bundesministerium für Gesundheit zur Prüfung vorgelegt und tritt – sofern er nicht beanstandet wird – nach Bekanntmachung im Bundesanzeiger in Kraft.

Patienten die weniger trinken wollen und GKV versichert sind, müssen nach 3 Monaten
tief in die Tasche greifen. Am Beispiel von Selincro (Nalmefen), ist von ca. € 200,-/pM
auszugehen. Eine flächendeckende Verschreibung von Selincro ist bis auf weiteres nicht in Sicht.

LG Federico
wieder eine „bittere Pille“ für R. Schneider

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Samstag 22. Februar 2014, 18:21

Zu dieser Mitteilunghabe ich im Deutschen Ärzteblatt so kommentiert:

Betonköpfe?
Kommentar zur Nachricht
Mittel zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit begrenzt auf Rezept
vom Freitag, 21. Februar 2014
Schon 2009 hat Dr. A. Ulmer, Suchtspezialist aus Stuttgart, so formuliert:
"Die Suchtkrankheiten verhalten sich so, als ob es diese (die Standardtherapie) nicht gäbe"
Die vom GBA einzig anerkannte Therapie des Alkoholismus (Entgiftung, Entwöhnung, lebenslange Abstinenz) verfehlt bei ungeheuren Kosten ihre Wirkung vollständig. Jedes Jahr erreichen nach durchschnittlich 14 Jahren Krankheitsdauer etwa 10% der Erkrankten (160.000) das Suchthilfesystem, davon erreichen etwa 40.000 - oft zum wiederholten Mal - eine Entwöhnungseinrichtung. Im Follow-up nach 12 Monaten, an dem sich 25% der angeschriebenen Klienten beteiligen, bezeichnen sich 55% davon selbst als abstinent.
Die vom GBA zum Standard erhobene Therapie des Alkoholismus erreicht also pro Jahr mit 40.000 von 1.6 Mio. Personen etwa 2,5% der Betroffenen und kuriert davon bei optimistischer Bewertung der Follow-Up-Zahlen etwa die Hälfte dauerhaft.
Diese offensichtlich schlecht erreichbare und allenfalls mäßig wirksame Behandlung wird vom GBA zum Standard erhoben und damit alle anderen Therapiemöglichkeiten früherer Stadien der Alkoholkrankheit aus der GKV-Suchtmedizin ausgeschlossen oder allenfalls als Nischenindikation mit erheblichen Einschränkungen zugelassen, angefangen vom nachweislich unwirksamen Acamprosat über Naltrexon und Nalmefene bis hin zur Ablehnung des nachweislich wirksamen off-label-Einsatzes von Baclofen.
Alkoholismus verhält sich nach den aus dem statistischen Jahrbuch entnehmbaren Behandlungszahlen bei Anwendung der Standardtherapie des GBA nahezu wie eine unheilbare Erkrankung.
Dabei sollte auch bei Alkoholkranken die Nikolausentscheidung des BVG Anwendung finden können, leiden sie doch an einer nachhaltig lebensbedrohlichen und invalidisierenden Erkrankung, die unter der Standardtherapie des BGA als unheilbar anzusehen ist und denen in der vertragsärztlichen Versorgung jegliche therapeutische Alternative weiterhin vorenthalten werden soll.


LG

Praxx

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Samstag 22. Februar 2014, 18:46

:-\ Fragen über Fragen: :-??
„Eine medikamentöse Therapie soll Betroffene dabei unterstützen, weniger Alkohol zu trinken und auf diese Weise zu einer Abstinenztherapie bewegen“, erklärt Hecken. Denn das übergeordnete Ziel der Behandlung der Alkoholabhängigkeit bleibe die völlige Abstinenz.
Wie soll diese Zielerreichung gesichert werden? Wird eine Vereinbarung abgeschlossen, in der sich der Patient vor der Verschreibung zur Erreichung der Abstinenz innert 3 Monaten verpflichtet? Eine Art Probezeit?

Der Ausschluss der GKV-Übernahme der Medi-Kosten nach drei Monaten bedeutet also nur, dass die Kosten nicht mehr übernommen werden, die Verschreibung aber erlaubt bleibt? (Ich bin mit dem deutschen Krankenversicherungsgesetz nicht vertraut; wir kennen in der CH Allgemein-, Halbprivat- und Privatversicherung. In der Medikation wird meines Wissens aber kein Unterschied gemacht.)

Zudem wurde Februar letzten Jahres das Opiatderivat Nalmefen (Selincro®) zur Reduktion des Alkoholkonsums bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit zugelassen.
Hä, hab ich was verpasst?

@praxx: Eindrücklich interpretiertes Zahlenmaterial.

lg
Lisa

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Samstag 22. Februar 2014, 19:04

@praxx,

Betonköpfe und „Thick as a Brick“.

Immer wieder komme ich zurück auf Dorothea Klieber und ihren Sohn:
„Ist es moralisch, ist es ethisch und ist es mit dem hippokratischen Eid zu vereinbaren,
Suchtkranke in der Gosse verrecken zu lassen unter dem Motto:
nimm meine saubere Therapie oder krepiere?"

Möglicherweise sind drastischere Worte wirkungsvoller.

LG
Kreuzritter Federico

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Mittwoch 26. Februar 2014, 10:19

Hier ist der volle Wortlaut Tragende Gründe
zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses
über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie:
Anlage III Nummer 2 – Alkoholentwöhnungsmittel

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Montag 3. März 2014, 15:09

Lundbeck-News:

Nalmefen ist von der EMA (European Medicines Agency) bereits Ende Februar 2013 zur
Therapie der Alkoholabhängigkeit EU-weit zugelassen worden.

Bevor das Präparat jedoch auf den deutschen Markt kommt, müssen noch einige formale,
behördliche Schritte durchlaufen werden. Eine Einführung im deutschen Markt wird daher für
diesen Sommer angestrebt. Aufgrund der formalen Prozesse ist dies allerdings nur eine
Schätzung und es könnte jederzeit zu Verschiebungen kommen.


Mit „formalen Prozessen“ dürfte gemeint sein:
Zu diesem Zweck legen die Hersteller dem G-BA ein Dossier auf Grundlage der
Zulassungsunterlagen sowie aller Studien zu den Arzneimitteln vor, die einen
Zusatznutzen des Medikaments im Vergleich zu einer vom G-BA bestimmten
zweckmäßigen Vergleichstherapie belegen müssen.

LG Federico

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Montag 3. März 2014, 19:16

@all,

kurz vor seiner Pensionierung hat sich Karl Mann auf dem Psychiatriekongress in München nochmals zu Nalmefen geäußert :

Abstinenz ade – weniger trinken reicht als Therapieziel: Nun sind die Hausärzte gefordert

Sonja Böhm | 3. März 2014
Medscape Deutschland, Psychiatrie

Autoren und Interessenkonflikte

Sonja Böhm
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Mann K: Leiter der zitierten Studie im Auftrag von Lundbeck

K. Mann :

"Noch mehr als die Wirksamkeit von Nalmefen habe ihn jedoch überrascht, sagt Mann, „dass in den Studien die Reduktions-Idee auch allein mit Beratung und Placebo funktionierte“. Denn auch in der Placebogruppe gelang eine Reduktion des Trinkverhaltens um rund 40%. Mann: „Das ist eigentlich das wichtigere Ergebnis für Patienten und niedergelassene Ärzte: Allein durch die Beratung plus die Erkenntnis, ich habe ein Problem und sollte da etwas unternehmen – kann man den Alkoholkonsum schon um 40 Prozent reduzieren!“

40% mit Placebo, "bis zu 60% mit Nalmefen"....
Groß ist der Unterschied ja nicht ! Und über die statistische Signifikanz kann man streiten.

M.E. ist die Einsicht der Betroffenen, etwas tun zu müssen (und zu wollen) die "halbe Miete". Den Rest (Aufräumen im Gehirn bis hin zur zufriedenen Abstinenz oder zum stark reduzierten Trinken) könnte dann Baclofen übernehmen.

Auch diesen Gedanken müsste man "Suchtexperten" und Hausärzten nahe bringen.
Letztere sollen jetzt ja mehr eingebunden werden.

LG, Werner

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Montag 3. März 2014, 20:37

K. Mann hat geschrieben:Das Pharmaunternehmen Lundbeck wollte zunächst den G-BA-Beschluss abwarten.
Die deutsche Markteinführung wird für diesen Herbst erwartet.

@Werner,

klingt realistisch. Auch die Argumentation, weshalb die Placebogruppe fast genauso
gut abgeschnitten hat, wie die Wirkstoffgruppe. Es kommt immer darauf an, wie Mann es
dreht und wendet ...

LG Federico

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Dienstag 4. März 2014, 16:27

Auch diesen Gedanken müsste man "Suchtexperten" und Hausärzten nahe bringen.
Letztere sollen jetzt ja mehr eingebunden werden.


Ja gern - aber bitte nicht noch mehr Arbeit "für lau"!
Zwei (!) strukturierte Interventionen beim qualifizierten Hausarzt von 30 Minuten Dauer reduzieren die Trinkmenge noch nach Jahren signifikant - nur zahlt keine Krankenkasse dafür, das sollen die suchtmedizinisch qualifizierten Hausärzte aus reiner Menschenliebe aus ihrem üppig bemessenen "RLV" von 35.-€ pro Quartal selber finanzieren...
N.B.: Für Arzneimittel bezahlten die GKV-Kassen 2013 fast 30 Mdr €, für ärztliche Behandlung (einschließlich ambulante Krankenhausbehandlung!) gerade mal 28 Mrd € ...

LG

Praxx

Re: Abstinenzdogma bleibt bestehen.

Dienstag 4. März 2014, 17:36

Lieber praxx,

ich gebe dir völlig Recht :
eine solche Leistung des Hausarztes, bei der er oft auch gleichzeitig psychologisch, neurologisch und oft auch "seelsorgerisch" tätig werden muss, darf nicht in einer "all-inclusive"-Mentalität innerhalb eines ohnehin lächerlich niedrigen RLV*) erfolgen.
Dafür sollte in der GOÄ ein eigener Posten vorgesehen werden.
Doch wer könnte das initiieren ?

LG, Werner

*) = Regelleistungsvolumen
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